Handaufzucht

Handaufzuchten (kurz HA) werden auch bei Nymphensittichen immer populärer. Sie werden oft als „superzahm“ noch im Kükenalter verkauft. Dabei werden teilweise Preise von bis zu 150 Euro für ein Jungtier erzielt. Verkaufsargument Nummer Eins ist unbestritten die Zahmheit. Halter, vor allem Anfänger, wünschen sich süße, verspielte und knuddelige Kuscheltiere. Die Ansprüche an eine artgerechte Haltung rücken dabei in den Hintergrund. Weitere Vorteile sind der leichte Umgang im Alltag und dass die Tiere weniger Stress erleiden bei Krankheitsbehandlungen. Ein verschmuster anhänglicher Vogel gibt dem Menschen ein gutes Gefühl. Teilweise erfüllt solch ein Tier nicht nur Statussymbole, sondern wichtige soziale Funktionen für den Halter.

Über die Nachteile erfährt man als Interessent jedoch nur selten etwas. Denn die Probleme fangen meist erst mit der Geschlechtsreife an. Es kann bis zu einem Jahr nach dem Kauf dauern, bevor merkliche soziale Defizite auftreten. Die Eltern produzieren im Kropf vorverdautes Futter, dass die Immunabwehr der Küken stützt. Ohne diese frühzeitige Immunisierung, sind die Tiere krankheitsanfälliger und entwickeln sich langsamer. Dies bemerkt man zum Beispiel, wenn die Jungmauser später einsetzt, oder das Tier durch die Mauser stark geschwächt wird. Ein weiterer Punkt den kaum jemand bedenkt ist, dass die Eltern durch die Trennung der Küken ebenfalls leiden.

Die Küken erlernen durch die Eltern und Geschwister das Sozialverhalten. Fehlt diese Lernphase, hat das Tier später Probleme sich in einen Schwarm einzufügen. Verpaarungen gestalten sich schwierig bis unmöglich. Der Vogel ist trotz anderer Nymphensittiche isoliert und häufig vom Schwarmleben überfordert.Schreien, Rupfen und Aggressionen sind nur einige typische Verhaltensstörungen, die durch die Fehlprägung auf den Menschen entstehen.

Langfristig überwiegen die Probleme. Viele Tiere werden nach einigen Monaten abgegeben, weil die Halter überfordert sind, wenn ihr Liebling plötzlich nicht mehr so verkuschelt ist, aber zum schreienden Tyrannen mutiert.

Auch Naturbruten werden zahm! Wer keine Zeit hat, die Nymphensittiche mit Ruhe und Geduld zu zähmen, sollte kritisch hinterfragen, ob eine Handaufzucht nicht noch mehr Zeit erfordern würde. Denn ein fehlgeprägter Vogel leidet, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Einige stellen sogar das Fressen ein, bis der Mensch wieder kommt. Baut man zu einer Naturbrut langsam Vertrauen auf, ist die Freude und Wertschätzung viel größer, als bei einem „vorgefertigten Vogel nach Wunsch“. Verschiedene Formen der Handaufzucht:

Isolierte Handaufzucht: Bei einer isolierten HA wachsen die Küken getrennt von den Eltern und Geschwistern auf. Dies führt zu großen sozialen Problemen, eine vollständige Resozialisierung ist häufig nicht mehr möglich. Je früher die Küken künstlich aufgezogen werden, desto schlimmer sind die Folgen.
Handaufzucht in der Geschwistergruppe: Trotz der Gesellschaft der Geschwister, kommt es im Erwachsenenalter zu sozialen Problemen. Die Tiere können oft keine festen Verpaarungen eingehen. Vollständiges Sozialverhalten lernen die Küken nur von den Eltern.
Teilhandaufzucht Diese Methode wird oft als „sanft“ und unbedenklich ausgewiesen. Tatsächlich heißt es lediglich, dass die Küken erst ab einem bestimmten Alter den Eltern weg genommen werden. Die Risiken sind die Gleichen.
Zufüttern: Ist die ideale Lösung, um ein Küken zu retten, wenn Probleme in der Brut auftreten. Die Küken werden nur zur Fütterungszeit dem Nistkasten entnommen, aber weiterhin von den Eltern gehudert. So gibt man den Jungtieren die Möglichkeit relativ normal aufzuwachsen. Geben die Eltern die Brut völlig auf, kann man die Küken auch anderen Brutpaaren unterlegen. Nymphensittiche sind hervorragende Ammenvögel. Treten vermehrt Brutprobleme auf, liegen die Ursachen häufig an der Haltung, nur selten an den Tieren. Bei unerfahrenen Pärchen sollte man nicht mehr als drei Küken zulassen.
Not-Handaufzucht Seien Sie kritisch, wenn ein Züchter Ihnen Not-Handaufzuchten anbietet. Es wäre nicht das erste Mal, das ein Züchter fast ausschließlich solche „Notfälle“ produziert. Ein Züchter hat zudem mehrere Brutpaare, er könnte gefährdete Küken auch anderen Eltern unterlegen.
Wenn es wirklich zu der Situation kommt, das die Küken nicht natürlich aufwachsen können, muss man zumindest frühzeitig die Jungtiere an Artgenossen gewöhnen. Sowie die Küken befiedert sind, müssen sie im Umgang mit anderen Nymphensittichen das Sozialverhalten erlernen. Der Halter muss sich als Bezugsperson zurückziehen.

Text: Jana Rückschloss